90 Minuten auf Chatroulette

Bei René habe ich vorgestern zum ersten Mal von Chatroulette gelesen. Chatroulette ist ein Service, der zufällig zwei teilnehmende Menschen miteinander via Video-, Audio- und Tastatur-Chat verbindet. Man drückt auf ”Play” und schon ist man mit irgendeinem Menschen aus irgendeinem Ort der Welt verbunden. Wenn man selbst oder der Gesprächspartner (”Stranger”) keine Lust mehr hat, drückt man ”Next” und wird mit einem zufälligen anderen Menschen verbunden. Klingt sehr simpel und gerade deswegen auch ziemlich genial.

Ich hab mich dann mal eingelogged. Aber ohne das eigene Videobild preiszugeben, klicken dich alle Strangers nach ca. 0,5 Sekunden weg. Der erste Test war also schnell beendet. Heute habe ich eine alte USB-Webcam im Schrank gefunden und um 18 Uhr einen zweiten Test mit Bild und Ton gestartet.

Irgendwelche Kids beleidigen mich. Mittelfinger. ”Loser!”, ”faaaaaat!” Da müssen also irgendwelche Aggressionen raus. Ich hab nur gelacht und *zapp* waren sie wieder weg. Ist Chatroulette der Klingelstreich 2.0: Beleidigen, solange man dem Gegenüber standhalten kann und dann ”Next” drücken? Ich bin plötzlich in einem biederen Wohnzimmer mit 4 Jugendlichen, die auf einem anderen Monitor schlechte Musikvideos schauen. Wir checken die Sprache aus: Englisch?! A petit peu… Ich bin in Marokko und man erklärt mir, Chatroulette wäre eine „Pervert Site“. Aha, deswegen die ganzen Schwänze von exhibitionistischen Herren. *zapp* Ein Junge in einer Darth Vader Maske scheppert „I am your Father!“ Ich breche in Lachen aus. Der Junge findet das lustig, aber er hat leider nicht viel mehr zu sagen. Next. Schon wieder gelangweilte Asiaten, die in pilotensitzartigen Sesseln im Internetcafe sitzen. Und wie die meisten Asiaten tragen sie Kopfhörer und verstehen kein Englisch. Schwierige Kommunikation mit Händen und gebrochenen Chat-Fetzen („funy“, „whre?“…). Es ist 18:30 und es sind mehr als 26.000 User auf Chatroulette eingelogged. Die meisten haben Kommunikationshemmungen. Viele sehen traurig und einsam aus, manche aber auch lustig mit Perücken, Masken und wilden Sonnenbrillen. Die meisten Mädels klicken mich sofort weg, die meisten gesichtslosen Schwänze zum Glück auch. 3 Lustige Japaner, die kein Wort verstehen, aber nett winken. Ich winke zurück. Next. 2 französische Paare in Paris, die in einem Raum Zigaretten rauchen. Wir reden etwas über Paris, Berlin und Südfrankreich. Jetzt bin ich schon 45 Minuten auf Chatroulette.

Kids, die ich für jünger als Mitte zwanzig halte, klicke ich sofort weg. Masturbierende alte Säcke auch. Ein Amerikaner sagt mir „cut your hair“ und klickt mich weg. Diesen Satz höre ich schon zum zweiten Mal. Ich will mich endlich mal mit Frauen unterhalten, um rauszufinden, warum sie denn hier sind. Aber alle klicken mich sofort weg. Mit Cheap Thrills fange ich an, Aufmerksamkeit zu generieren: Ich headbange, bewege meinen Kopf ruckartig in die Webcam und wieder weg (Ray Cokes Style) und suche lustige Objekte auf dem Tisch, die ich in die Kamera halten kann. 18:50 – Nur noch 10 Minuten, dann ist die geplante Stunde um. Ich sehe zwei jugendliche Paare, vielleicht Anfang 20. Der eine Typ fummelt seiner Freundin in Brusthöhe auf dem Shirt rum. Das Mädel fragt mich „do you want a strip?“. Ich sage ihr „if you’re an exhibitionist – go on”. Alle lachen. Niemand zieht sich aus. Wir quatschen noch ein bisschen, bis man mich irgendwann wegklickt. Oder hab ich sie weggeklickt?! In Chatroulette geht alles sehr schnell. Ich habe das Gefühl, diese Art der Kommunikation lässt einen noch einsamer werden. Irgendwie nervt das. Irgendwie macht es aber auch süchtig. 19:15 – Ich habe bereits überzogen. Ich lege einen Countdown fest und gebe mir noch 10 Strangers. Schwanz. Schwanz. „Paper Man“: Ein Typ mit einer Papiermaske, auf der „I am paper man – do you like me: Yes or No“ steht. Ich tippe „Yes“. Er erzählt mir, er sei ein Superhero. Der Vorletzte ist dann Tom, mit dem ich die einzige normale Unterhaltung in Chatroulette habe. Er lebt in Kalifornien und ist total aufgeregt, weil er nach der Arbeit ein Blind-Date mit einer Tamara hat. Im Hintergrund sehe ich Kinderzeichnungen an der Wand. Von seiner 7-jährigen Tochter sagt er. Wir reden noch über den Wahnsinn in Chatroulette und freuen uns beide, dass man auch normale Menschen hier treffen kann. Im Anschluss habe ich meine Notizen aus dem Textfile in diesen Text gegossen.

Aus der geplanten Stunde wurden also 90 Minuten. Es war irgendwie traurig und melancholisch, aber auch bunt und spannend wie das Leben (allerdings mit deutlich höherem FKK-Anteil). Die anarchische Radikalität von Chatroulette nervt und fasziniert mich gleichermaßen. Ich werde es als Party-Bookmark im Browser behalten und vielleicht irgendwann mal wieder „Next“ klicken.

See for yourself: Chatroulette

11 Gedanken zu „90 Minuten auf Chatroulette

  1. sehr schöner bericht, mac, jut jelacht habick! für heute tausendmal spannender als es selber zu machen… mal sehn, wie lang die first-mover-sind-die-anderen-zurückhaltung noch anhält ;)

  2. hey maC: da hab ick ja mal was vor dir jewusst! (aber natuerlich nicht gemacht: hab ja keen anschluss!) aber: is doch jezze schon laengers unterwegx das teil… und ehrlich: so spektakulaer ist die idee ja wohl nich… nur weils jezze mit bildchen funkt wie skype…

    ‚Irgendwie macht es aber auch süchtig‘

    naja thatz wohl the trick! wie war das mit andy warhol? bekannt fuer 15 min???? okay der ganze schnelle schei** jezze sind es eben noch fuenf sekunden…

    ohne es selbst zu kennen: was man dir in marokko erklaert hat ist wohl ein grosser teil der wahrheit! irgendwie -so lustick und gut geschrieben dein bericht ist- liest sich das -fuer mich- ganz schoen traurig an was da noch zwischen menschen so uebrig bleibt! scheiss maschinenkommunikation!

  3. @macke: Das wirklich spektakuläre an der Idee hinter Chatroulette ist die extreme Simplifizierung. Es geht hier nicht um Technik (die ist seit Jahren ein alter Hut), sondern um den Remix und vor allem die Reduktion aus Bestehendem. Und es ist wie mit Twitter: Du musst es selbst ausprobieren, um den Kick wirklich zu verstehen.

  4. hi mac! ich glaube die extreme simplifizierung ist ganz genau das was mir so auf die nuesse geht: simplifizierung und schnelligkeit: ich habs sie beide satt! und ob technik n alter hut ist oder nicht macht sie doch nicht zur nichttechnik: kommunikation ueber maschinen ist und bleibt immer maschinenkommunikation! (so meinte ich das) ja und wegen dem remix: das meente ich doch! is halt n remix is nich wirklich was spektakulaeres in zeiten von ‚partnerboersen‘ oder ’speed dating‘ und dem ganzen -fuer mich- anderen kranken schrott wo menschen menschen suchen aber nur kohle oder zumindest ihre lebenszeit recht beschraenkt ja regelrecht bloede los werden… wo bleibt da das herz?!

  5. ganz toller Bericht und selbstexperiment. Amüsiert und macht mich auch kurz nachdenklich, doch muss die Sinn-und-Zweck-frage bei diesem Service überhaupt ernsthaft gestellt werden? Für Exhibitionisten ist das eine tolle Erfindung,ganz sicher. Und ganz klar:hat wilde Haare unser Mac-der-Wilde,das passt und ich weiss gar nicht was die alle wollen;-)

  6. Hallo,

    ein wirklich gelungener Artikel.
    Ist schon der Wahnsinn, was Chatroulette da für einen regelrechten Hype ausgelöst hat.
    Ich probierte die Seite letztens auch aus und habe einen entsprechenden Artikel hierzu verfasst.
    Wenn man die Teilnehmer mal analysiert,dann erkennt man, dass circa 80 Prozent aller männlichen Geschlechts sind.
    Das sollte einem schon zu denken geben.
    Auch stößt man circa jedem dritten auf pornographische Inhalte. Das ist dann doch ziemlich abstoßend.

    Viele Grüße,
    Maximilian

  7. Toller Bericht.

    Ich habe die Seite gerade eben über meinen Newsletter Dienst erhalten und ausprobiert. Nach zehn Minuten klicken habe ich abgebrochen. Mehr als zwanzig verschiedene Leute wurden mir nicht gezeigt, nichts mit zwanzigtausend und mehr.

    Dein Bericht trifft voll und ganz zu. Vielleicht werde ich in ein paar Monaten noch einmal reinschauen.

    Gruss
    Stefan

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